Various Artists – “Technoid: Greatest Comeback Vol.1”
In nur wenigen Monaten hat sich das St. Petersburger Label Paperfunk bei mir zu einem meiner Lieblingsimprints katapultiert. Warum? Nun, derlei Gründe gibt es gleich mehrere. Zum einen ist bei den „Mainstream“-Neurofunk-Labels schon seit längerem zu beobachten, dass sich deren Sound immer mehr untereinander ähnelt und somit kaum noch voneinander abhebt. Bei Paperfunk leibt und lebt man im Gegensatz dazu weiterhin den Underground. Zum zweiten nimmt man es beim Label schon mal gar nicht bierernst, wie es im techigen DnB nun wahrlich schon oft vorgelebt wurde. Da braucht man sich nur das Cover des Releases hier anzuschauen. Und zum dritten respektiere ich die Chuzpe, mit der sie sich ein Konzept ausdenken und dies dann über z.B. die gesamte Compilation hinweg durchziehen. Und dies trifft zu 100% auch auf hier vorliegenden Sampler zu. Man hat sich überlegt, dem Pre-Neurofunk zu huldigen und gräbt ein Subgenre aus, was man eine Zeit lang als „Techno-DnB“ bezeichnete und der u.a. von Protagonisten wie Proket (RIP), Prode, Rawtekk, Raiden oder auch teilweise Current Value bedient wurde. Lang ist’s her. Nun ist das Artist-Roster bei Paperfunk so breit aufgestellt, die Compilations stets so vollgestopft mit Tunes, dass sich wohl genügend angesammelt hat, um daraus eine ganze Compilation zu machen. Oder man hat jenen Producern dies als Auftrag mit auf den Weg gegeben. Werden wir nie erfahren und deshalb möchte ich sogleich meinen Favoriten des Releases küren, bei dem es sich um „Belyash“ von Samosudo handelt. Der ist einfach bösartig. Derb geshuffelter Staccato-Vibe, dem das Hirn beinahe nicht hinterherkommt und man denkt die ganze Zeit, dass das Ding doch bald einen Überschlag macht. Menschen, die verschiedene Formen von Tekk lieben, würden dieses Teil hier auch in die Arme schließen, da bin ich mir sicher. Während andere Artists, die man vom „üblichen“ Neurofunk kennt, hier auch auf den Tech-Zug aufspringen (Paperclip, Nerv3, Fade Duster, Dextems oder Nervorum), so ist mit Pylon („Anatome“) sogar einer dabei, der damals schon Tech-DnB produzierte. Jetzt meine ich auch wieder zu wissen, warum. Ich glaube, die wollten damals auch schon ganz bewusst einen Gegenentwurf zum UK-Sound kreieren. Hervorzuheben ist hier auch noch „Megazord“ von Kano, da die Snare göttlich ballert sowie das äußerst letale „The Cycle“ von Sam Ex. Paperfunk, ich feier alles, was ihr macht. Egal, welche Idee entstehen mag, ihr macht immer was draus! (Mtrc)
Release: 25.07.2025
Label: Paperfunk Recordings
Katalognummer: PPRFNKLP029
Wertung: 8/10
ALOTT – ”Let You Go”
Ich versuche hier ja immer, trotz der Kürze, ein halbwegs vollständiges Bild von Künstlern zu zeichnen, bevor es dann um die Musik geht, aber beim halb ungarisch, halb berlinerischen maskierten Rächer Mark Becker, auch bekannt als ALOTT, stellt sich das als ganz schöne Mammutaufgabe heraus – vergebt mir also etwaige Lücken. Inspiriert durch den Onkel begann er den Schlagzeugunterricht mit 10, und später kam dann auch noch Breakdance dazu, aber all das wurde beiseite geschoben, als sein Kumpel ihm als Teenager Logic gezeigt hat. Plötzlich gehen schwierige Drumpartien ganz einfach! Geleitet durch sein Idol Virtual Riot, landete er dann nicht nur ebenfalls bei Ableton statt Logic, sondern auch in der gleichen Lehrstätte, Mannheim’s legendäre Popakademie. Von 2012 an hat sich Mark dann einen Namen als REDAX gemacht, den wirklichen Erfolg gab’s dann aber eher in der Pop Welt, wo er, in enger Zusammenarbeit mit dem ehemaligen Producer von Gestört Aber Geil, es bis zur Multi-Platin Auszeichnung schaffte, und auch heute immer noch sein Unwesen treibt. 2021, hingegen, reizte ihn das Elektronische noch mal wieder, und überhaupt DJen wollte er jetzt auch endlich mal, und so gestaltete sein altes Projekt kurzerhand neu: ALOTT war geboren! Aus dem Nichts gelaunched mit dem Vize (so heißt der Artist) Kollaborationsalbum ‚Prock House‘, hatte Mark sofort so einiges an Köpfen drehen lassen, was über die folgenden Jahre mit weiterem Electro/Tech/Slap House Gebounce anhielt. Manches allein, manches mit Kollegen wie Tom Finster’s und barking continues‘ Donkong, und manches auch eher so in die Riddim Dubstep Richtung, bis ihm die Maske dann irgendwann zu unhandlich wurde, und er sich endlich als Marky Mark zu erkennen gab. Ab diesem Jahr dann, gab es dann auch das weshalb wir hier sind in der Beckerei zu verspeisen: DnB! ‚Hiding From The Sun‘, ‚Won’t Come Down‘, ‚Senza Fine‘, alle extremst gut, aber heute geht’s erstmal um den Neuesten, ‚Let You Go‘. Geboren aus dem viral gegangenen Sounddesign Experiment, in dem Mark aus MPE – MIDI Polyphonic Expression – Sounds Gänsehautakkorde gezaubert hat, fängt ‚Let You Go‘ auch direkt mit eben jenem an, bevor Mark’s eigene, geschmeidige Stimme mit dem titulären Vocalsample umhertanzt, und uns schlussendlich in einen minimalistischen, herzerwärmenden Drop geleitet. Nicht nur die Bassline ist soulig knackig, der Tune nimmt so einige Wendungen, und bringt es sogar zurück zum raumausfüllenden Introsound zurück – absolut sagenhaft! (Lennart Hoffmann)
Release: 04.09.25
Label: Selfreleased
Katalognummer: /
Wertung: 9.5/10
Initia – ”Doveland / Traces”
Springen wir mal wieder ganz woanders hin: Nach Kiel, wo Fabian Beterke alias Initia herkommt! Na gut, inzwischen ist er eigentlich waschechter Berliner, aber erwähnt haben wollt ich’s trotzdem. 2018 feierte der Stoic Music Veteran sein Debüt auf der dritten Compilation der absolut riesigen ‚Urban Wildlife‘ Reihe, aber so richtig losgetreten wurde der zutiefst bassige Sound, mit dem wir ihn heutzutage verbinden erst 2023. Als einer der Grundpfeiler des 2022 gegründeten Berliner Labels, hat er nicht nur zusammen mit Azur, Silentium, Senchai, Skulder und Mully so einiges an bösartig schönem gebastelt, sondern auch solo abgeliefert. Auch hinter dem DJ Pult liefert Fabi sowohl unter dem Stoic Banner, als auch für Shrouded (mit einem gewissen Herrn Hoffmann!) und format:e, immer wieder feinste Deepeskunst ab. Ihr merkt, so viel hab ich noch gar nicht zu erzählen! Ist auch ein wenig ein Mysterium der Herr Beterke, aber dann stürzen wir uns eben lieber in die Musik, genauer genommen die neueste Doppelscheibe, ‚Doveland / Traces‘! Natürlich auf Stammlabel Stoic zur Schau gestellt, beginnt die Doppelsingle mit dem, selbst für Initia Verhältnisse, zutiefst schaurig düsteren ‚Doveland‘, welches mit erdrückendem Bass, zutiefst tanzbaren rhythmischen Entwicklungen und einer Atmosphäre, die einen mental in die tiefsten Untiefen zerrt, wahrlich Freude bereitet. Für mich der Star der Show ist aber Flipside ‚Traces‘, dessen Wellen der Vocalzerhackstückelungen auch beim zwanzigsten Mal anhören noch Gänsehaut bei mir auslösen. Diese unheimliche Melodie, diese Art wie es einem die Wirbelsäule runterkrabbelt, die drückende Bassline – wie sie den Tune fast zum Forever Dub verkommen lassen konnten, weiß ich auch nicht! Einfach exzellent. (Lennart Hoffmann)
Release: 05.09.25
Label: Stoic Music
Katalognummer: SM027
Wertung: 9/10
Bexlo – ”ISARE”
Springen wir mal wieder ganz woanders hin: Schottland! Da hat mittzwanziger Informatikkollege Benedict Logie, aka BEXLO, nämlich in letzter Zeit so einiges an grandioser Musik zusammengebraut, und das muss einfach zelebriert werden. Erste Experimente in Richtung melodischer EDM, Future Bass und Trap gab’s schon seit 2020, mit Releases auf Enter, Tribal Trap und OUTPLAYED, und während seiner längeren Weltreisen konnte er auch schon Gigs in den USA und Australien, aber eben auch zuhause in Glasgow verzeichnen – manchmal solo, manchmal mit Riesenschotte Coben im Schlepptau. 2023 gab’s mit ‚MIND‘, zusammen mit ONE PUNCH, dann auch das erste Mal DnB zu hören, relativ kurz danach kam dann auch schon die erste Zurschaustellung der angesammelten DnB IDs. Bis die ersten davon dann auch mal rauskamen, verging allerdings einiges an Zeit, aber letzten Monat war es dann endlich soweit, und die ‚ISARE‘ EP war Realität! Als erster Release nach dem umfassenden visuellen Rebranding des legendären Skankandbass, war Benedict’s Dreierpack ziemlich hohem Performancedruck ausgeliefert, aber wenn ihr nach unten zur Wertung luschert, wisst ihr schon, die Erwartungshürde wurde mit Bravur gemeistert – sogar Sub Focus hat’s supported! Ob nun ‚Get Up‘ mit seinen laserbetriebenen, alles zertrümmernden Bassexplosionen und den wunderbar atmosphärischen Vocals, ‚Razor‘ mit seinem Dialog zwischen extra würzigen Niedrigfrequenzwalzen und auseinander gevierteilten Gesangseinlagen, oder ‚Would You Say‘ mit seinem 170er Techno Vier-auf-den-Boden Geschrammel – es ist alles einfach so unfassbar gut! (Lennart Hoffmann)
Release: 28.08.25
Label: Skankandbass
Katalognummer: SNB125
Wertung: 9.5/10
SYNNA – ”The Day After EP”
Und zu guter Letzt, noch ein Sprung zurück in’s Festland – lasst uns über SYNNA reden! Ursprünglich aus Slovakien, aber heutzutage in Tschechien residierend, hat Jakub Gal’a, der Mann hinter dem Synnamen, bereits einige Jährchen die Drum & Bass Szene unsicher gemacht, aber wahrscheinlich müsst ihr für den wirklichen Ah’a-Moment das vorherige Gal’Alias erzählt bekommen: GU:STUFF! Ganz genau, der, der alles von Bassline bis Neurofunk und sogar Jump Up, auf allerlei Labels wie Neuroheadz, DnB Lab, Stonx, OTD, Jungle Cakes, und Make Your Era rausgehauen hat! Vielen auch bekannt als der Featuregast auf Ed Solo’s ‚Raggamuffin‘. All das gefiel ihm aber so gar nicht mehr, und wie viele vor ihm, hat er sich deswegen der alten Hülle entledigt, und unter neuem Gewand, und neuartigen, auf Hochglanz polierten Sound, nun einen Neustart gewagt. Ganz schön viel Neues. Los ging das Ganze jetzt mit seiner Debüt EP, also eben jenen Release, den ich hier featuren möchte: ‚The Day After‘! Opener ‚Lose Control‘ eröffnet das Spektakel mit einem zum Mitklatschen anregenden, maximal minimalistischen, märchenhaft melodischen Muster, gibt uns später aber auch einen wunderbaren Temposwitch. ‚You & Me‘, hingegen, lässt sowohl die Drums als auch den Bässe als perfekten Kontrast zu den wunderbaren Synths und den lieblichen Vocals eine gute Menge eskalieren, was später sogar in komplettem Breakbeat Kaos ausartet. ‚Higher‘ befördert uns ins allerlei Stratosphären mit seinen alles zerstörende Synthwalzen und -sticheleien, und ‚Wasted Love‘ boom-klatscht noch mal gehörig, während die wahrhaft einzigartigen, futuristischen Piekser uns noch ein letztes Mal erheitern. Wunderbarst! (Lennart Hoffmann)
Release: 21.08.25
Label: Selfreleased
Katalognummer: /
Wertung: 8.5/10
![Reviews [September 2025]](https://www.baesse.de/wp-content/uploads/2021/01/reviews-09-sep_yellow-768x439.jpg)
